Ein Mädchen von 16 Jahren
Mit einer Tasche auf dem Rücken
Setzt sich hin und spricht
Zu seiner Familie
Leb wohl mein lieber Vater
Leb wohl meine liebe Mutter
Ich fahre ins Ausland
Und nicht zu meinem Spaß
Lebt wohl auch Ihr meine Schwestern
Für lange, lange Zeit
Ich fahre so weit fort
Wahrscheinlich für immer […]
(Auszug aus einem Gedicht einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin, eingesetzt in Neuss, verfasst 1943)
Seit Anfang des Schuljahres widmet sich der Projektkurs Geschichte der biographischen Recherche deutscher und ausländischer Kriegstoter, die auf dem Neusser Hauptfriedhof bestattet sind bzw. es einst waren.
Dabei wird der Projektkurs von Frau Kinga Kazmierczak vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. und von Frau Dr. Annekatrin Schaller vom Stadtarchiv Neuss unterstützt.
16 Jahre alt war die eingangs zitierte junge Ukrainerin, als sie gefangen genommen und zur Zwangsarbeit nach Neuss verschleppt wurde. Das entspricht dem ungefähren Alter der Kursteilnehmer:innen. Das jüngste dokumentierte Todesopfer ist wenige Tage alt, das älteste 80 Jahre.
Während die deutschen Kriegstoten in ihren Familiengräbern beigesetzt wurden oder auf dem so genannten Ehrenfriedhof über individualisierte Grab- bzw. Gedenksteine verfügen, erinnern an der Alliierten Kriegsgräberstätte lediglich drei Gedenksteine an die überwiegend polnischen und ukrainischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
In der Beschäftigung mit den zahlreichen Einzelschicksalen gewinnen die Kursteilnehmer:innen zum einen eine Vorstellung von dem Ausmaß des Einsatzes von Zwangsarbeitskräften in ihrer eigenen Heimatstadt, zum anderen erhalten die Schüler:innen dabei Eindrücke von den menschenunwürdigen Lebensumständen in den Lagern und Industriebetrieben.
Zugleich versucht der Projektkurs durch seine Arbeit den Zwangsarbeitskräften und Kriegsgefangenen ein Stück ihrer Identität zurückzugeben.
Nicht wenige starben durch Bomben, da ihnen der Zugang zu Luftschutzräumen verwehrt blieb. So suchten sie Schutz in den Splittergräben oder in bereits bestehenden Bombentrichtern- in der trügerischen Hoffnung, eine zweite Bombe fiele nicht so schnell an die gleiche Stelle.
In den Sterbeurkunden finden sich aufgrund der hygienischen Bedingungen häufig Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Ruhr. Hinzu kam der schlechte Allgemeinzustand vieler Gefangener.
In Auseinandersetzung mit diesen bewegenden Geschichten entstand der Wunsch, den 8. Mai als Gedenktag nicht einfach so verstreichen zu lassen.
So erstellte der Kurs einen Gedenkkranz, der auf seinen aus Moosgummi gestalteten Vergissmeinnicht-Blüten Friedensbotschaften trug. Zudem gestalteten die Teilnehmer:innen Grablichter, die das Motiv des Vergissmeinnichts aufgriffen.
An der Gedenkveranstaltung an der Alliierten Kriegsgräberstätte des Neusser Hauptfriedhofs nahmen neben Herrn Bürgermeister Reiner Breuer die Beigeordneten Frau Ursula Platen und Herr Dr. Matthias Welpmann sowie Herr Holl, Frau Dr. Schaller und Frau Kazmierczak teil.
Auch ein Fernsehteam des WDR und Vertreter der Lokalpresse waren zugegen.
Die musikalische Rahmenbildung übernahmen Moritz, Pauline und Tyrone (Q1).
In seinem Redebeitrag dankte Herr Bürgermeister Breuer dem Projektkurs für das außergewöhnliche Engagement. Die aktuelle weltpolitische Lage zeige uns, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit sei und wir alle uns Tag für Tag aktiv für ihn einsetzen müssten.
Frau Kazmierczak wies anschließend auf die besondere Bedeutung von Kriegsgräberstätten als Erinnerungsorte hin. Jugendliche träfen hier auf steinerne Zeitzeugen, die mit Hilfe von Quellen und Zusatzinformationen erst „zum Sprechen“ gebracht werden müssten.
Neben den überwiegend polnischen und sowjetischen Opfern gedachten die Teilnehmer:innen auch der vielen Kriegstoten anderer Staatsangehörigkeiten, die einst hier bestattet wurden: Belgier, Franzosen und Briten sowie Griechen und Italiener. Bis 1955 wurde der Großteil dieser Opfer auf Soldatenfriedhöfe umgebettet oder in ihre Heimat überführt.
Die auf dem Gedenkkranz dokumentierten Wünsche und Gedanken stammten aus der Schüler- und Lehrerschaft des Marie-Curie-Gymnasiums und versuchten in ihrer sprachlichen Vielfalt die unterschiedliche Herkunft der Kriegstoten abzubilden.
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und des Nahostkonflikts sowie der zunehmenden innenpolitischen Polarisierung sei diese unmittelbare, da lokale Beschäftigung mit den Folgen von Krieg und Terror von großer Bedeutung, so Frau Dötsch, Leiterin des Projektkurses.
Umso wichtiger und bedeutsamer sei auch der Umstand, dass sich am gleichen Tag Schüler:innen des Marie-Curie-Gymnasiums an den Feierlichkeiten zum Europa-Tag in der Neusser Innenstadt aktiv beteiligten.
[DÖT]
Presse:
Lokalzeit Düsseldorf, ab 7:30 min: https://www.ardmediathek.de/video/lokalzeit-aus-duesseldorf/lokalzeit-aus-duesseldorf-oder-08-05-2024/wdr-duesseldorf/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLXNvcGhvcmEtOGU2MzRmYTQtZmI3NS00YjljLWIwMWItMzIzYTEzYjE4Njg5
Aktuelle Stunde, ab 40:35 min: https://www1.wdr.de/fernsehen/aktuelle-stunde/alle-videos/aktuelle-stunde-clip-aktuelle-stunde–08-05-2024-100.html
Artikel in der NGZ:
https://rp-online.de/nrw/staedte/neuss/neuss-gedenkveranstaltung-zum-ende-des-zweiten-weltkriegs_aid-111828165
Der Bericht der städtischen Pressestelle:
https://www.neuss.de/projektkurs-organisiert-gedenken-an-kriegstote