Aus dem Engagement des letzten Projektkurses Geschichte erwuchs für 20 Schüler:innen des Marie-Curie-Gymnasiums die einmalige Chance fünf Tage an einem ausgewähltem Programm zur deutsch-niederländischen Geschichte teilzunehmen.
Untergebracht waren die Teilnehmenden in Räumlichkeiten der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Ysselsteyn inmitten des Limburgischen Peel unmittelbar neben der flächenmäßig größten deutschen Kriegsgräberstätte der Welt, die heute als Mahnmal dient.
31.813 Kriegstote haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Das entspricht in etwa der Anzahl an Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges pro Tag starben. (vgl. https://mcg-neuss.eu/aktuell/gedenken-aber-wie-projektkurs-geschichte-zu-besuch-in-ysselsteyn-nl/)
Nach dem Beziehen der Holzpavillons gab Jan Heemels, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Ysselsteyn, während einer Friedhofsführung Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Kriegsgräberstätte und veranschaulichte an ausgewählten Lebensgeschichten die Besonderheiten dieses Lernortes.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen nahmen die Schüler:innen an einem vertiefenden Workshop im multimedialen Besucherzentrum teil. Hier entdeckten die jungen Leute die Spuren des Zweiten Weltkrieges vor Ort, die eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen. In diesem Zusammenhang erhielten die Schüler:innen auch die Aufgabe sich mit den Gedanken der Besucher:innen im Gästebuch auseinanderzusetzen.
Am zweiten Tag besuchte die Gruppe gemeinsam mit der Projektleitung Stevy Custers zunächst die Gedenkstätte Kamp Amersfoort in der Region Utrecht, die an das unvorstellbare Leid von rund 47.000 Gefangenen erinnert.
Seit 1941 inhaftierten die Nationalsozialisten in diesem Straf- und Durchgangslager verschiedene Gruppen, wie Widerstandskämpfer, Kommunisten, Geiseln, (mutmaßliche) Kriminelle wie Schwarzhändler, Opfer von Razzien, vor allem Juden und Jüdinnen sowie Zeugen Jehovas und sowjetische Kriegsgefangene. Schätzungsweise drei Viertel der Gefangenen wurden zur Zwangsarbeit in andere Lager transportiert, viele von ihnen kehrten nie zurück. Mit etwa 600 Exekutionen zählt das ehemalige Konzentrationslager Amersfoort zu einer der größten Hinrichtungsstätten auf niederländischem Gebiet während des Zweiten Weltkrieges.
Heute erinnert “Der steinerne Mann“ des Künstlers Frits Sieger, selbst ehemaliger Gefangener, an die zahllosen Opfer. Das Mahnmal befindet sich am Ende des Schießplatzes, einer von den Häftlingen des Lagers gegrabenen Gasse, in der viele Hinrichtungen stattfanden.
Nach einer zu gleichen Maßen fachkundigen wie emotionalen Führung über das ehemalige Lagergelände konnten die Schüler:innen eigenständig mittels Audioguide die Ausstellung im angegliederten Museum erkunden.
Das Ziel am Nachmittag war ein weiterer zentraler Erinnerungsort in den Niederlanden: die Gedenkstätte Kamp Westerbork, ca. 50km entfernt von Groningen. Im Anschluss an eine pädagogische Einführung mit Film begab sich die Gruppe zum 3km entfernten ehemaligen Lagergelände. Während des Rundgangs vermittelte eine Historikerin den jungen Leuten eindrucksvoll die vielschichtige Geschichte dieses Ortes, der im Zweiten Weltkrieg als „Portal zur Hölle“ galt. Kamp Westerbork diente als so genanntes Durchgangslager zu den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Sobibor.
In Erinnerung an jeden ermordeten Deportierten stehen auf dem ehemaligen Appellplatz 102.000 Steine. Dabei symbolisiert die Höhe der Steine das jeweilige Alter der Opfer.
Am nächsten Tag hieß Sjoerd Ewals, Leiter der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Ysselsteyn, eine Gruppe niederländischer Schüler:innen willkommen und führte in die bilinguale Dokumentation „Het zijn maar Duitser“/ „Es sind nur Deutsche“ des Limburger Regisseurs Bart Hölscher ein. Anschließend absolvierten die niederländischen und deutschen Teilnehmenden gemeinsam einen Audiowalk in der Planungsphase und tauschten sich über die einzelnen Stationen inklusive der „Gates of Remembrance“ aus. In Gedenken an alle Opfergruppen waren im Auftrag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. diese fünf Glas-Stelen des amerikanischen Künstlers Arnold Dreyblatt auf dem zentralen Platz des Friedhofs errichtet und im Dezember 2023 eingeweiht worden.
Im weiteren Tagesverlauf konnten die Schüler:innen probeweise in ausgewählte Tonspuren des Audiowalks hineinhören und der Bildungsreferentin Meagan von de Mortel ein Feedback zwecks Weiterarbeit geben.
Am Donnerstag wurde Den Haag angesteuert. In Kleingruppen erkundeten die Teilnehmenden zunächst die Innenstadt.
Am Nachmittag besuchte die Gruppe schließlich das so genannte „Oranjehotel“ in Scheveningen. Dabei handelte es sich um ein Polizeigefängnis während der nationalsozialistischen Besatzungszeit. Zwischen 1940 und 1945 wurden hier mehr als 25.000 Menschen interniert, die meisten Gefangenen wegen Widerstand oder Formen bürgerlichen Ungehorsams. Daher erhielt das Gefängnis in der Bevölkerung rasch den Beinamen „Oranjehotel“- Oranje (Oranien) ist der Name des Königshauses und war damit das Symbol des Widerstands gegen die deutschen Besatzer. Gleichzeitig diente das Gebäude als Durchgangstation für Gefangene, die wegen ihrer ethnischen Abstammung, ihrer Weltanschauung oder ihrer sexuellen Veranlagung verhaftet wurden.
In einem einführenden Film berichteten ehemalige Häftlinge eindrucksvoll von Folter, Angst und tagelangen Verhören, aber auch vom Zusammenhalt unter den inhaftierten Personen.
Anschließend erkundeten die Teilnehmenden materialgestützt die dortige Ausstellung zu Themen wie Willkür und Gedenken. Der ausgezeichnete englischsprachige Workshop endete mit einer interaktiven Fotoaufgabe. Hierbei sollten die Schüler:innen ein Bildmotiv wählen, das ihr jeweiliges Thema am besten repräsentiere. Die Gruppe, die sich mit dem Begriff Freiheit auseinandersetzte, entschied sich für die Innenansicht einer Zelle mit Blick auf ein kleines Fenster oberhalb der Zellentür. In diesem Zusammenhang sei es wichtig zwischen physischer Freiheit und Freiheit des Geistes zu unterscheiden. Im Plenum wurden schließlich alle Ergebnisse präsentiert und ausgewertet.
Während der Rückfahrt nach Ysselsteyn kündigten die vollen Straßen (900 km Stau im ganzen Land) den bevorstehenden Nikolausabend an. Anstelle des 6. Dezembers wird in den Niederlanden schon am 5. Dezember Sinterklaasavond oder Pakjesavond gefeiert. Die Teilnehmenden erfuhren, dass dieser Tag in den Niederlanden einen viel höheren Stellenwert besäße als in Deutschland. Familien kämen zusammen, um gemeinsam zu schlemmen und auf die Ankunft von Sinterklaas zu warten.
Der letzte Tag stand ganz im Zeichen der Reflexion und des Feedbacks an die Projektleitung.
Es wurde deutlich, dass die Schüler:innen in den vergangenen Tagen tiefgreifende Erfahrungen gesammelt hatten. Die sorgfältig zusammengestellten Programmpunkte ermöglichten eine multiperspektivische und somit fundierte Auseinandersetzung mit Krieg, Verfolgung und Internierung.
Wir danken dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. sowie dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland für die Planung, Organisation und Finanzierung dieser besonderen Projekttage, die alle Teilnehmenden nachhaltig geprägt haben.
[DÖT und BER]