Das Land der Fjorde und Wikinger – Norwegen ist nicht jedermanns erste
Wahl für einen Auslandsaufenthalt. Doch es war meine, ausgelöst durch
WDR Naturreportagen und einer Rundreise 2015 durch Skandinavien. Im
Schuljahr 2017/18 verbrachte ich dort die 10. Klasse. Für mich hieß es
also 10 Monate täglich Norwegisch reden und sich mit der nordischen
Kultur auseinandersetzen.
Im August letzten Jahres bekam ich während unseres Familienurlaubs in
Polen einen Anruf: Meine Austauschorganisation hat einen Platz für mich
gefunden.
Es stand danach fest: Die nächsten 10 Monate würde ich in Arendal, eine
40.000 Einwohner Stadt an der Südküste Norwegens verbringen.
In meiner Gastfamilie hatte ich zwei jüngere Gastschwestern, im Alter
von 12 & 14.
Mitte August startete dann der Flieger ins Ungewisse.
Doch das Ankommen und Einleben war nicht schwer. Man muss sagen, dass
das Klischee der verschlossenen Skandinavier immer mehr abnimmt. Meiner
Ansicht nach brauchen sie vielleicht manchmal Zeit für sich, sind aber
sonst sehr sozial und offen. Dadurch war es auch leicht neue Freunde zu
finden. Sowohl in der Schule, als auch im Badmintonverein und im Chor
habe ich sehr liebe und interessante Menschen kennengelernt.
Einer der grössten Unterschiede zu Deutschland war die Schule. Mein
Arbeitsheft war ein persönlicher Schullaptop auf dem ich alle Aufgaben,
Tests und Hausarbeiten erledigte. Freies WLAN, eine
Trinkwasserauffüllstation, nette Lehrer – alles Gang und Gebe an
norwegischen Schulen. Unsere Lehrer waren vor allem Lernbegleiter und
nicht Wissensvermittler. Sie haben uns beim Lernen und Erarbeiten von
Projekten unterstützt statt möglich viel Wissen in uns
hineinzutrichtern. Der Unterricht war viel mehr auf Gruppenarbeit und
gemeinsames Lernen fokussiert. Praxis wurde der Theorie vorgezogen.
Hätte ich an einer deutschen Schule in einem Jahr mehr Stoff gelernt?
Vielleicht ja. Aber zu welchem Preis? Leistungsdruck, Konkurrenz,
Lernstress – all dies wurde mir in Norwegen erspart. Und ob ihr es
glaubt oder nicht: In Norwegen geht jeder gerne zur Schule!
Mein grösstes Interesse ist die Musik. Auch in Norwegen war ich in
dieser Hinsicht aktiv: Durch eine Freundin wurde ich Pianistin eines
evangelischen Kirchenchores, mit dem wir viele Auftritte hatten. Des
Weiteren wurde ich zur stellvertretenden Organistin unserer kleinen,
katholischen Gemeinde, wodurch ich dann mindestens einmal im Monat eine
Messe spielte. In Arendals Jazzbar «No 9» gab es häufig Jamsessions und
kleine Konzerte, wo ich sowohl an den Tasten als auch am Bass saß.
Aber das grösste musikalische Highlight war mit Abstand das Musical „The
Fiddler on the Roof“ (auch „Anatevka“ genannt, auf norwegisch
„Spillemann på taket“). Dieses wurde durch das Arendal Musiktheater
organisiert und war eine sehr professionelle Produktion. Der eigentliche
Pianist wäre mein Basslehrer gewesen, der dann kurzfristig absagen
musste und mich 3 Wochen vor der Premiere bat ihn zu ersetzen. Es folgte
tagelanges Üben, schlaflose Nächte und anstrengende Proben. Aber
gleichzeitig lernte ich tolle Menschen kennen und sammelte jede Menge
Erfahrung. Schnell wurde The Fiddler on the Roof zu meinem
Lieblingsmusical, dessen Lieder ich bis heute noch am Klavier spiele.
Während meines Auslandsjahrs bin ich auch durch Norwegen gereist: Ich
habe im Februar eine Freundin in Hammerfest, der nördlichsten Stadt
Norwegens, besucht. Dort sah ich meine ersten Nordlichter, ein
atemberaubender Anblick! Neben riesigen Gletschern und eisigen
Temperaturen (-20°C) bewunderte ich die um 15:30 untergehende Sonne und
erfuhr viel über die Bedeutung des Fisches für die Norweger. Norwegen
ist nach China der zweitgrösste Fischexporteur weltweit, daher ist neben
Öl und Gas die Fischindustrie eines der wichtigsten Geldquellen für den
Staat. Schmecken tut er übrigens auch – mein persönlicher Favorit ist
norwegischer Dorsch, sehr empfehlenswert!
In meinem Auslandsjahr habe ich auch die norwegische Sprache gelernt.
Ich hatte bereits vor meiner Abfahrt 2 Jahre lang mich mit Norwegisch
beschäftigt, aber richtig los ging es dann erst vor Ort. Doch die
Sprache ist nicht schwer: Die Grammatik ähnelt sehr dem Englischen
(zumal sie sogar noch simpler ist) und manche Wörter dem Deutschen.
Daher klappte auch das fliessende Norwegisch Sprechen nach etwa 3 Monaten.
Mein persönlicher Höhepunkt des Auslandsjahres war der 17. Mai,
Norwegens Nationalfeiertag. Ich verbrachte ihn in meiner Heimatstadt
Arendal, die an diesem Tag voll mit Marschkappellen, Nationaltrachten
und norwegischen Flaggen war. Gefeiert wird die Verabschiedung vom
„Kongeriket Norges Grunnlov“ (Grundgesetz des Königreichs Norwegen) im
Jahr 1814.Wir, meine Gastfamilie und ich, schauten uns mit meinen
Freunden die Nationalparade an und fuhren nachmittags mit dem Boot raus.
Überall war es fröhlich laut, dieser Tag schien wie der Wichtigste im
Jahr. Die Norweger sind überzeugte Patrioten: „Ja, vi elsker dette
landet” (=“Ja, wir lieben dieses Land”), heißt es im ersten Satz der
Nationalhymne. Aber der norwegische Patriotismus ist ein gesunder, denn
die Norweger stellen ihr Land nicht über andere, sondern respektieren
sie genau so, wie sich selbst.
Somit habe auch ich dieses Land lieben gelernt. Nicht nur die
atemberaubende Natur oder der leckere Fisch, sondern auch die Menschen
haben mein Reiseherz erobert. Neben Deutschland und Polen ist Norwegen
mein drittes Zuhause, zu dem ich in Zukunft noch häufig reisen werde. In
diesem Sinne, ha det bra (Macht’s gut) !
Ursula Wienken, Q1